»Der Nazi-Opa und sein Enkel« Udo HInnerkopf

 

 

1. Das Ende

 

Johann Hardt war tot. Die Jagdgesellschaft stob entsetzt auseinander. Der Apotheker beugte sich über den leblosen Körper, befreite ihn vom Zügel, der sich um die Hand des Toten gewickelt hatte und zog ihn auf die Seite ins feuchte Gras. Dann trug er den Toten zu seinem verbeulten Vorkriegs-DKW und fuhr mit ihm ins Dorf zurück.
Dabei hatte der Tag gut begonnen. Es war die fünfte Jagd mit großer Gesellschaft nach dem Ende des Krieges. Auch im hohen Alter liebte der von seinen Pferden über den steinigen Boden zu Tode geschleifte Besitzer des Jagdreviers, der Großbauer und Gastwirt Johann Hardt, den Beginn der Jagdzeit im Herbst über alles, selbst wenn ihn mehr und mehr die Knie schmerzten und die Gicht plagte.
Die Kutsche, geputzt und geschmiert, stand auf dem Hof, die Schnapsfässchen und die Gläser im Mahagonikästchen waren unter den Sitzbänken verstaut. Max und Moritz, die beiden Pferde, mit Extrafutter versorgt und vor die Kutsche gespannt.
Zuvor hatte Opa Hardt angekündigt, diesmal wolle er seinen Enkel Holger zur Jagd mitnehmen. »Der Junge soll erleben, wie gejagt wird und wie man am Ende das erlegte Wild beim Verblasen der Strecke feiert und ehrt.«
Das hatte der zehnjährige Holger gehört, der oben auf der Treppe stand, die zum Haus hinauf führte.
»Nein, nicht!«, flehte er und rannte durch den Hausflur in den kleinen Garten hinter der Kegelbahn. Dort kroch er unter den Holunderbusch, seinen Zufluchtsort. Er warf sich auf den feuchten Boden und hämmerte mit den Fäusten auf die nach Moos und verwelkten Blättern riechende Erde.
Die Treibjagden fanden meist an Sonntagen statt; sie begannen um 9 und endeten gegen 15 Uhr. Da es im Herbst früh dunkel wurde, reichte das Büchsenlicht oft nicht mehr aus. Der Jagdleiter informierte die Treiber über die Verhaltensregeln: »So viele Hunde wie möglich, aber auch so wenige wie nötig.« Meist wurde das Wild vom einen Ende des Hochwaldes in Richtung der Jäger zum anderen Ende getrieben.
Diese Sonntage schätzten die Teilnehmer, insbesondere, wenn Opa Hardt als Besitzer des Reviers die Jagd organisiert hatte, mit seiner Kutsche zum Endpunkt gefahren kam und seine Schnäpse und Würste an die fröhliche und trinkfreudige Gesellschaft verteilte.
Auch an diesem trüben Herbsttag hatte der Alte vor, mit der Kutsche zum Halali-Treff zu fahren. Bevor es losging, brüllte er laut vom Kutschbock herunter: »Wo steckt der Junge? Gerda, bring ihn sofort zu mir!«
Aber Holgers Mutter rührte sich nicht. Sie wusste, wo sich ihr Junge versteckt hatte und war bereit, alles zu tun, um zu verhindern, dass ihn ihr zorniger Vater zum Mitfahren zwingen würde. Der wiederum fluchte umso lauter: »Los, los! Ich will den Jungen mitnehmen.«
Unter dem Holunderbusch war es schummrig, moderig und feucht. Holger lag da und atmete den muffigen Geruch der Erde, bis sich sein Hemd und die kurze Hose nasskalt anfühlten und er rückwärts unter dem Gebüsch hervor robbte und zurück zur Treppe rannte, um nachzusehen, ob die Kutsche mit dem schimpfenden Opa abgefahren war.
Sie stand aber noch im Hof, Max und Moritz scharrten mit den Hufen und der alte Mann, wütend und grimmig, sah zu ihm hinauf und brüllte: »Los, komm her! Dies ist ein Befehl.«
Der Junge hielt sich am Geländer fest, schüttelte den Kopf und rief in Richtung Kutsche, so laut er konnte: »Ich komme nicht mit … weil … ich …« Das nachfolgende »nicht will« ging im Fluchen seines Großvaters unter. Unvermutet stand die Mutter wieder hinter ihrem Jungen, legte ihre Hände auf seine Schultern und flüsterte: »Sag’s ihm noch mal.«
»Ich komme nicht mit! – Weil … ich … NICHT… WILL!«, wiederholte er mit jetzt kräftiger Stimme. Unter dem Holunderbusch hatte er sich vorgenommen, dem Großvater diesmal entschlossen zu widersprechen. Erschrocken über seinen Mut ließ er das Geländer los und rannte ins Haus zurück.
Der alte Mann auf dem Kutschbock schüttelte den Kopf, knallte mit der Peitsche, rief »Hüjaa!« und los ging die Fahrt – ohne den Enkel. Die Pferde schnaubten und zerrten an den Zügeln. Sie genossen Ausfahrten wie diese, erlaubten sie ihnen doch die Freiheit, drauflos zu laufen und die Langeweile des ewigen Stallstehens abzutraben.
Zunächst ging es die Straße hinunter in Richtung Waldforst und weiter zum Buchenhain, wo die Jagd am Nachmittag enden sollte. Der Alte hielt die Zügel fest in den Händen und versuchte, die Geschwindigkeit durch Drehen der Bremskurbel herabzusetzen. Das klappte auch gut, doch die Pferde fühlten sich durch die schwerere Last angefeuert und begannen schneller zu traben – ihr Laufdrang war ungebremst.
Bald war die Abwärtsstrecke geschafft, die Straße verlief jetzt ein Stück geradeaus, an der Heuwiese mit dem duftenden, vor kurzem erst geschnittenen Gras vorbei. In munterem Galopp ging es dahin und der Alte hatte Mühe, die Kutsche in den Feldweg zum Buchenhain auf gemächlichere Fahrt abzubremsen.
Kurz vor der Abzweigung zog er am rechten Zügel und rief: »Hooh hott!«, das Signal für »rechts abbiegen«.
Aber anstatt langsamer zu werden schnaubten die Tiere, warfen die Köpfe zurück, dass ihre Mähnen im Fahrtwind flatterten und unversehens begannen sie in ungezügeltem Galopp schneller zu laufen, noch schneller und noch schneller, bis sie in die scharfe Rechtskurve einbogen, die hin- und herschaukelnde Kutsche mit sich zerrend.
Zunächst geriet das Gefährt leicht, dann stark ins Wanken, rutschte vom schmalen Weg ab und kippte mit lautem Krachen ins Schlehdorngestrüpp. Die Pferde bäumten sich auf und zogen die umgestürzte Kutsche die kleine Böschung hinauf, wobei der Alte vom Kutschbock gerissen wurde. Er schrie laut auf und wollte die Zügel loslassen. Das gelang ihm aber nicht, die Leine hatte sich unentwirrbar um seinen rechten Arm gewickelt. Er brüllte, bellte, fluchte – wimmerte dann nur noch … und verstummte.
Die Pferde scheuten jetzt erst recht. Mit wehenden Mähnen galoppierten sie, die auf der Seite liegende Kutsche im Schlepp, über den holprigen Waldweg, den geschundenen Körper, der durch die Zügel unlösbar mit dem Gespann verbunden war, durch Pfützen und Schotter hinter sich herziehend. Erst am Endpunkt des Jagdgeländes fand die wilde Fahrt ein Ende. Der blutverschmierte Alte war nicht mehr zu erkennen. Seine geliebten Pferde hatten ihn zu Tode geschleift.

 

 

2. Der Anfang

 

Bis zu seinem grausigen Ende war Johann Hardt ein umstrittener Bauer mit dem größten Hof im Dorf, gleichzeitig der von einem Teil der Dorfbewohner am meisten gehasste Anhänger der Partei, der bei Streitigkeiten gerne dazwischen ging und sich meist auf die Seite der Regime-Unterstützer schlug. Nach dem Ende des Krieges verehrte er den Führer unvermindert weiter, glaubte nicht an dessen angeblichen Selbstmord und hoffte auf seine Auferstehung und Wiederkehr, »damit das Land wieder ins Lot kommt.«
Über vierzig Jahre wirtschaftete er mit seiner Frau Paula auf dem Hof. Das Paar führte ein Leben, das teils erträgliche, bisweilen aber auch verstörende Seiten aufwies. Wie Martha ihrer Schwester Gerda nach deren Ankunft aus dem bombardierten Dresden später einmal erzählte, sei ihr diese Ehe ein Rätsel, denn selten habe sie zwei Menschen gesehen, die weniger zueinander passten als ihre Eltern. Dass die Ehe über 40 Jahre gehalten habe, sei für sie ein Wunder, da müsse der liebe Gott etwas ganz Außergewöhnliches im Sinn gehabt haben.
Kennengelernt hatten sich die beiden ein paar Jahre nach der Jahrhundertwende in der nahen Bischofsstadt, wo er am Gymnasium unterrichtete und sie eine seiner Schülerinnen war – die Klassenbeste in Deutsch. Bei Lehrer Hardt hatte sie zum ersten Mal von Brentano, Mörike und Schlegel gehört, auch vom nationalbewussten Hölderlin und dem heimatverbundenen Wilhelm Busch. Gewiss war es kein Zufall, dass alle Pferde, die im Lauf der Jahrzehnte auf dem Hof vor die Leiterwagen und bei Schnee vor den großen Schlitten geschirrt wurden, die Namen »Max« und »Moritz« erhielten. Andererseits verehrte er Tolstoi, doch darüber sprach er nur einmal. Wie konnte es sein, fragte er Paula, dass ein einsamer Mensch so viel über andere Menschen wissen konnte. Es sei doch gar nicht möglich, dass er das alles selbst erlebt haben konnte, um dann so empathisch über Herz und Verstand seiner Figuren schreiben zu können.
Angetan von ihrer Wissbegierde lud der junge Deutschlehrer Johann Hardt seine Schülerin Paula zu einem Erntedank-Spaziergang zu den nach frischgeschnittenem Gras duftenden Herbstwiesen ein. Sie genierte sich, bekam rote Backen, fröstelte ein wenig – sie wollte nicht mit dem »alten« Mann gesehen werden, obwohl sie ihn respektierte und auch heimlich verehrte. Er war zweiunddreißig Jahre alt, Paula neunzehn. Sie versteckte sich hinter ihren Freundinnen. Die aber schubsten sie nach vorne und sagten kichernd: »Los, mach hin!«
Nach diesem ersten Spaziergang bat der Lehrer um einen Termin bei ihren Eltern. Er brachte eine Schachtel Pralinés mit und hielt um Paulas Hand an. Von Berufswechsel war die Rede, von einem Bauernhof auf der Hohen Rhön, von viel Arbeit, aber eben auch von sicherer Versorgung und Unabhängigkeit.
Bald darauf wurde Verlobung gefeiert und zwei Monate später geheiratet, wie das im Kaiserreich nach der Jahrhundertwende üblich war. Sie zogen in das Bauernhaus im Dorf auf der Hohen Rhön. Er gab den Lehrerberuf auf und wurde Bauer. Zum Hof, der stetig wuchs, kamen im Lauf der Jahre eine Gastwirtschaft hinzu, ein gut sortierter Lebensmittelladen, eine Kegelbahn, ein Tanzsaal und für besondere Anlässe ein Casino mit Klavier. In rascher Folge kamen auch die Kinder – drei Jungen, Hans, Willi und Hermann, und vier Mädchen, Martha, Gerda, Renate und Else.
In der Ehe war Paula die ruhende Kraft, anders als ihr Mann, der nicht in der Lage war, ein Kind auf seine Knie zu heben, mit ihm zu scherzen, zu schaukeln oder ihm ein Märchen vorzulesen. Stattdessen war er jähzornig und jederzeit bereit, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen und das Geschirr zum Tanzen zu bringen.
Große Gefühle gehörten nicht zum Kitt dieser Ehe. Die Kinder kamen, wie das üblich war, eins nach dem anderen, ohne Abstand. Wie Paula dies hätte verhindern können, wusste sie nicht. Ihr Dasein bestand aus harter Arbeit und aufopferungsvoller Fürsorge.
So kamen beide, Paula und Holgers Großvater, trotz aller Widrigkeiten auf ihre Weise durch die Jahre – ein eingespieltes Paar. Sie ließ ihn wettern, schimpfen, toben und schämte sich im Stillen für ihn und seine egozentrische und unnahbare Art. Von seiner humanistischen Bildung, die ihn zum Gymnasiallehrer hatte aufsteigen lassen, war im alltäglichen Leben auf dem Hof nichts geblieben. Der Kampf mit den Maschinen und Wetterkatastrophen, den Überschwemmungen, der Trockenheit und den daraus folgenden Missernten, sowie die angebliche Dummheit des Gesindes und die vermeintliche Unbelehrbarkeit der Kinder hatten ihn hart gemacht. Er war ein schwieriger und sprunghafter Mann, der nicht selten brüllte und auch schon mal mit der Hand zuschlug. Er ließ seine Frau pflegen, schlichten und heilen, während sich sein explosiver Charakter auch im Alter nicht mehr änderte und der Umgang mit ihm immer schwieriger wurde. Meist saß er auf dem Sofa und brummte vor sich hin. Niemand wagte sich in seine Nähe, besonders die Enkelkinder nicht, die Angst davor hatten ihm zu nahe zu kommen, denn er fand nichts dabei ihnen eine Kopfnuss zu verpassen, wenn immer sie laut waren oder ihm ihr Lachen, Kreischen und Herumhüpfen als unangemessen und störend erschien. Dann konnte er brüllen, dass die Tischbeine wackelten.
Über seine Kindheit war wenig bekannt. Weder erzählte er von den Jahren, die er als kleiner Junge in der Bischofsstadt erlebt hat und wie er studierte und Lehrer am Gymnasium wurde. Dass er von seinen älteren Brüdern oft gehänselt worden war, erzählten diese einmal Paula, und dass sie alle von ihrem Vater wenig Liebe und Anerkennung erfahren hatten, stattdessen aber oft verprügelt wurden. Dagegen habe besonders er, der Jüngste, wie eine Klette am Rockzipfel seiner Mutter gehangen. Sie habe ihn von Herzen verwöhnt und verhätschelt, weil er unter den Brüdern der fleißigste und klügste war und die Mutter am liebsten ihm alleine vorgelesen habe. Und auch, dass er mit 19 eine kleine Jüdin geschwängert, sich dann aber geweigert habe, sie zu heiraten.

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