»Routinekontrolle« Hubertus Becker

 

 

1. Teil
Das Leben der Menschen

 

1. Kapitel

 

»Aber Herr Staatssekretär, ich bitte Sie! Was die Zahlungsmodalitäten angeht, so handelt es sich doch bloß um ein organisatorisches Detail. Daran wird der Deal gewiss nicht scheitern. Warten wir, bis Herr Sukkar bei uns ist, dann werde ich ihnen die Sache mit den Provisionszahlungen noch einmal erläutern.«
James Cole, der Inhaber der Londoner Handelsagentur Beltec Consulting blickt seine Mitspieler zuversichtlich an. Der Brite ist groß und bringt dies durch seinen aufrechten Gang zusätzlich zur Geltung. Sein volles, dunkelblondes Haar leuchtet in der Sonne. Er trägt eine beige Safarihose, darüber ein weißes Hemd, die Ärmel hochgekrempelt, weiße Golfschuhe, Sonnenbrille. Der Umstand, dass er seinen afrikanischen Geschäftspartnern beim Spiel zwei Schläge voraus ist, trübt an diesem Tag weder die gute Laune des Vorsitzenden der Ethiopian Airlines, Dr. Joseph Kaftassa, noch die euphorische Stimmung des Staatssekretärs Abdul Bakar, der im Auftrag des Wirtschaftsministers einlocht und heute dessen Interessen vertritt.
Der Ras Dashen Golf- and Countryclub liegt eine knappe Autostunde südöstlich der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba im zentralen Hochland, wo gemäßigte Temperaturen herrschen, über dem die meiste Zeit des Jahres ein blauer Himmel steht. Die Anlage wurde unter der Regentschaft des Kaisers Haile Selassie restauriert und gilt als eine der schönsten in Ostafrika. Sie untersteht der Verwaltung des Verteidigungsministeriums, und sie ist als Erholungsort nur wenigen Mitgliedern der äthiopischen Machtelite zugänglich. Seit der ägyptische Außenminister vor einigen Jahren auf der Suche nach einem Ball im rough von einem Leoparden erschreckt worden war, ist das vierzig Hektar große Areal eingezäunt.
Dr. Achmad Sukkar, Direktor der äthiopischen Staatsbank und vierter Teilnehmer an der Partie, benötigte zwei Schläge, um seinen Ball vom Ufer eines kleinen Sees zum green hinaufzutreiben. Die Kinder der Gärtner hatten ihn zuvor aus dem Uferschilf gefischt. Jetzt balgen sie sich um die Münze, die der Caddie ihnen zur Belohnung hingeworfen hat. Mit einem exakt berechneten put locht Herr Sukkar vom Rand des Grüns her ein und macht so den blamablen Schlag ins Wasser wieder wett. Die Caddies schleppen die schweren Golftaschen. In einiger Entfernung, aus dem Schatten einer Gruppe von Eukalyptusbäumen heraus, beobachten zwei Sicherheitsbeamte die Szene.

»Meine Gespräche in Brüssel und Toulouse sind durchaus positiv verlaufen«, erklärt Mr. Cole seinen Mitspielern während sie zum nächsten tee schlendern. »Am Preis der Flugzeuge ist allerdings nichts mehr zu drehen. Die Auftragsbücher der Airbus Industries sind derzeit so voll, dass man sich dort die harte Preispolitik leisten kann.«
»Was den Preis angeht, so ist das letzte Wort noch nicht gesprochen«, kündet der Staatssekretär Bakar an. »Schließlich war ich lange genug Botschafter in Paris und habe gewisse Beziehungen in Europa.«
»Nichts gegen gute Beziehungen, aber glauben Sie mir, Abdul, ihre beste Beziehung ist die zu mir«, sagt Cole. »Keiner besorgt ihnen die Maschinen derzeit günstiger, das versichere ich ihnen! Die einzige Möglichkeit, den Preis der Flugzeuge noch zu senken, sehe ich darin, dass Sie, meine Herren, einer Kürzung ihrer Provision zustimmen.«
Dem Direktor Sukkar gefällt die plumpe Ironie nicht, mit welcher der Brite seinen Landsmann gerade an die Leine nimmt.
»Hören Sie auf, Cole«, mischt er sich ein. »Sie wissen genau, dass wir bei der Provision eine sehr niedrige Marge angesetzt haben. Was Sie aber nicht wissen ist, wer auf unserer Seite noch alles mitverdient. In Addis Abeba halten viele die Hand auf. Finger weg von unseren zweieinhalb Prozent! Da gab es von Anfang an keinen Spielraum.«
Achmad Sukkar ist klein von Statur, sein Ton und seine Gestik verraten allerdings, dass er nicht zu den Männern gehört, die übereilt einen Schützengraben räumen. Die elegante goldene Brille, die hinter seinen Schläfen in der krausen Wolle steckt, unterstreicht das Image des Bankiers, der sich als eine Art moderner Medizinmann seines Volkes begreift.
»Sie greifen den falschen Mann an, Herr Direktor«, sagt James Cole mit gespielter Empörung, indem er stehenbleibt und sich auf das Eisen stützt. »Nicht ich bin es, der Nachverhandlungen fordert, sondern ihr Freund Abdul.«
»Bitte meine Herren, kein Streit. Über die Konditionen waren wir uns doch längst einig. Airbus ist bereit, uns binnen 24 Monaten vier A320 zu liefern. Stückpreis 62 Millionen Euro. Unsere Provision inklusive. Die Finanzierung ist durch einen Kredit der European Investment Bank gesichert, die Hermes-Bürgschaft kommt je zur Hälfte aus Berlin und aus Paris. Die Laufzeit des Kredits beträgt 30 Jahre, der Zinssatz wurde mit 6,5 Prozent beziffert. Ist das so korrekt, Mr. Cole?«
Dr. Kaftassa, erst seit zwei Jahren Chairman der Ethiopian Airlines, verspürt keine Lust sich von Abdul Bakar, dessen Meinung hier ohnehin von nachgeordneter Bedeutung zu sein scheint, die Golfpartie verderben zu lassen. Im Alter von 45 Jahren war Joseph Kaftassa vom Verkehrsminister berufen worden, den Vorsitz der Fluglinie zu übernehmen und diese aus den roten Zahlen herauszufliegen. Mit einer Strategie der Verknüpfung wirtschafts- und verkehrspolitischer Interessen, insbesondere durch die Sicherung erweiterter Landerechte in Europa, ist er auf dem besten Weg dahin. Dr. Kaftassa trägt schottische Kniebundhosen, Strümpfe und Hemd aus karierter Baumwolle mit grün-gelb-rotem Muster. Ein massivgoldener Siegelring an seiner Linken lässt vermuten, dass die Versorgung seiner Familie mit Grundnahrungsmitteln nicht zu den Sorgen gehört, die ihn in erster Linie umtreiben. Er ist von athletischem Körperbau und scheint als einziger der drei Afrikaner in der Lage, James Cole heute den Sieg streitig machen zu können.
»Sie sagen es«, bestätigt der Geschäftsführer der Beltec. »Der Vertrag ist ausgearbeitet und ich gehe davon aus, Sie in drei Wochen zur Unterzeichnung in London begrüßen zu können. Für Herrn Bakar scheint lediglich die technische Abwicklung der Provisionszahlung noch nicht ganz klar zu sein. Vielleicht sind Sie so freundlich, und erklären es dem Herrn Staatssekretär noch einmal.«
Tatsächlich scheint Abdul Bakar, der erst vor wenigen Monaten auf den Posten des Staatssekretärs berufen wurde, der einzige unter den Männern zu sein, der mit den Modalitäten derartiger Provisionszahlungen nicht vertraut ist. Cole hält ihn offenbar nicht für kompetent, denn gelegentlich übergeht er die Kommentare des Politikers. In der Tat gehört Bakar zu jenen Beamten, die immer dann befördert werden, wenn einer der Vorgesetzten ausfällt, sei es durch Tod, Pensionierung oder als Bauernopfer im Kampf gegen die allgegenwärtige Korruption. Der Staatssekretär ist weder groß noch klein, weder dick noch dünn, weder laut noch leise. James Cole sieht in ihm eine Mischung aus Krämer und Soldat, den man in die Schlacht schickt, solange man ihn braucht, der aber niemals einen Orden erhält, sofern er überlebt. Ganz gewiss will sich keiner der Teilnehmer der Neun-Loch-Partie von Abdul Bakar das Geschäft ruinieren lassen.
Bei einem von Cole arrangierten Treffen im vergangenen Monat in Paris hatten sich Dr. Kaftassa und Direktor Sukkar mit den Vertretern von Airbus und einem Manager der Luxemburger European Investment Bank über den Kaufvertrag geeinigt. Dreißig Prozent des Kaufpreises sollten binnen vierzehn Tagen nach Vertragsparaphierung direkt vom Kreditgeber an den Hersteller überwiesen werden. Die Restkreditsumme, welche die diversen Provisionen enthält, soll an die Central Bank of Ethiopia gehen. Von dort sollen dann jeweils bei Lieferung der Flugzeuge Teilbeträge an Airbus bezahlt werden.
»Sobald das Geld bei uns eingeht, wird die Kommissionszahlung für die Beltec an deren Offshore-Tochter Metatrans geleistet. Auf das Treuhandkonto bei der Royal Bank of Scotland in Gibraltar«, erklärt Herr Sukkar dem Staatssekretär.
»Von dort aus«, fährt Cole fort, »werde ich als Prokurist der Metatrans ihren Anweisungen entsprechend die Provisionszahlungen veranlassen. Und falls es der Herr Staatssekretär oder der Herr Minister so wünschen, bin ich gerne bereit, ihnen vor Ort ein Nummernkonto einzurichten. Das sollte ich aber möglichst vor meiner Abreise noch wissen.«
Cole tauscht rasche Blicke mit Dr. Kaftassa und Herrn Sukkar aus. Sich seines Kompetenzvorsprunges in diesen Dingen bewusst, weiß der Agent, dass Abdul Bakar nicht bloß den Modalitäten bei der Provisionszahlung, sondern auch dem Gesamtkonzept folgen wird. Da die Gruppe sich dem nächsten Abschlag nähert, wo die Caddies schon dabei sind, die Schläger vorzubereiten, bleibt Dr. Kaftassa stehen und veranlasst seine Mitspieler, ebenfalls inne zu halten.
»Da ist noch was. Die Sache ist zwar noch nicht sicher, aber möglicherweise steht die Stornierung einer Bestellung von drei Maschinen vom Typ A320 durch die Regierung von Angola an. Liefertermin sollte Ende des Jahres sein. Sollten wir da kurzfristig einspringen, hätten wir nicht nur die Flugzeuge früher als geplant, sondern zusätzlich eine Reihe weiterer Vorteile. Aber soweit sind wir im Moment noch nicht. Und was deine Kompensationsgeschäfte angeht, lieber Abdul, so mahne ich ein klein wenig Geduld an. 250 Millionen Euro sind eine Menge Geld und 30 Jahre eine lange Zeit um es zurückzuzahlen. Sicher werden wir auch da einen Weg finden.«
Während der letzten Worte fasst Dr. Kaftassa den Mann aus dem Wirtschaftsministerium jovial beim Arm und setzt so die ganze Gruppe wieder in Bewegung.
»Wie du weißt, vertraue ich ganz auf dich, Joseph, aber für unsere Kaffeeindustrie sollte dabei unbedingt etwas herausspringen. Dass dieses Geschäft nun voll über den Kredit finanziert wird, das gefällt mir überhaupt nicht. Wenigstens einen Teil hätte ich gerne über ein langfristiges Bartergeschäft abgewickelt. Schließlich muss der Wirtschaftsminister auch an unsere Kaffee-Produzenten denken.«
Die Gruppe ist beim nächsten tee angekommen. Der Bankdirektor nimmt das vor ihm liegende Gelände in Augenschein und vom Caddie den vorgeschlagenen driver entgegen. Aus einer dynamischen Körperdrehung heraus erhält der Ball Effet und bleibt, für die Spieler gerade noch erkennbar, auf halber Strecke am Rande des fairway liegen.
Dann wendet sich Herr Sukkar an den Staatssekretär: »Euer Kaffee wird schon nicht liegen bleiben. Die Nachfrage bei Kaffee ist stabil. Kein Grund zur Sorge.«
»So ist es«, fügt James Cole hinzu, während er sich zum Schlag bereitstellt. »Kaffee kann man immer verkaufen, insbesondere den äthiopischen longberry.«
Der Ball driftet hart an der Krone eines Eukalyptusriesen vorbei in Richtung green, landet aber ein wenig zu kurz.
»Hervorragend!«, kommentiert Abdul Bakar.
Nachdem auch Bakar seinen Ball weit den fairway hinuntergetrieben hat, lenkt Cole das Gespräch zurück auf das Geschäft.
»Als wir damals in Paris den Rahmen absteckten, habe ich nicht bloß für einen vorgezogenen Liefertermin und die äußerst entgegenkommende Finanzierung gesorgt, sondern ganz nebenbei auch noch Landerechte für die Ethiopian Airlines in München und Barcelona erwirkt. Don’t forget that, gentlemen! Übrigens, wie sieht es damit aus, operieren Sie schon auf diesen Strecken, Dr. Kaftassa?«
»So gut wie«, bestätigt der Manager. »In zwei Wochen fliegen wir München zum ersten Mal an. Bis Jahresende hat die Lufthansa die Abfertigung für uns übernommen. Barcelona dürfte im kommenden Jahr folgen.«
Von den vermeintlichen Fehlern seiner Mitspieler lernend, wählt Dr. Kaftassa ein Holz Nummer Drei aus und konzentriert sich auf seine Körperhaltung. Wegen der Sonne verliert er den Ball kurz nach dem Abschlag aus den Augen, sieht ihn aber schließlich in beruhigendem Vorsprung weit vorne durch das flache Gras hüpfen. Eine gute Ausgangsposition, um mit zwei weiteren Schlägen bis ans green zu kommen.

 

 

2. Kapitel

 

Coleman Cole hat mit 21 gerade sein Abitur bestanden und beabsichtigt, gegen den Rat seiner Eltern, demnächst Soziologie zu studieren. Herr Cole hätte seinen Ältesten gerne zu einer Banklehre überredet, aber davon will Coleman nichts wissen. James Cole hofft, indem er den Jungen ein wenig an der Welt des big business schnuppern lässt, irgendwie doch noch einen Geschäftsmann aus ihm machen zu können. Andererseits besitzt er soviel Verstand, seinen Sohn zu nichts zu zwingen. Es ist das erste Mal, dass Coleman seinen Vater auf einer Geschäftsreise nach Afrika begleitet. Da James Cole mit den Äthiopiern heikle Geschäfte zu besprechen gedachte, hatte er Coleman gebeten, den Nachmittag am Pool des Clubhauses zu verbringen.
Haile Kadir, der Kapitän der 2. Kolonne der Fahrbereitschaft des Wirtschaftsministeriums beaufsichtigt unterdessen einen Burschen, der draußen auf dem Parkplatz den Dienstwagen wäscht und auf Hochglanz poliert. Den Straßenverhältnissen des Landes entsprechend besteht der Fuhrpark der Ministerien in erster Linie aus leistungsstarken Geländewagen. Als das Auto schließlich sauber ist, leistet der Fahrer Herrn Cole Junior an der Poolbar Gesellschaft.

Am späten Nachmittag ist die Golfpartie beendet und die Männer verlassen das Ras Dashen Clubhaus. Den beiden Sicherheitsbeamten gestattet der Staatssekretär, sich zu verabschieden und im eigenen Wagen nach Addis Abeba zurückzufahren. Haile Kadir öffnet die Wagentüren. Als alle eingestiegen sind, aber noch ehe er den Motor startet, erkundigt er sich höflich nach dem Sieger der Partie.
»Der Ruhm gebührt Dr. Kaftassa, unserem Experten für fliegende Objekte. Mit 40 Schlägen liegt er vorne. Gefolgt von Mr. Cole, der immerhin bloß drei Schläge mehr benötigte. Herr Sukkar und ich hatten heute nicht unseren besten Tag«, gesteht Abdul Bakar.
Dann setzt sich der Wagen in Bewegung. Nach wenigen Kilometern mündet die Zufahrtsstraße zum Golfclub in die Nationalstraße, die von Addis Abeba nach Debre Zeyit führt. Wie üblich, herrscht auf dieser Fernverbindung reger Verkehr. Blaugraue Busse poltern in halsbrecherischem Tempo an überladenen Lastwagen vorbei. Die Golfer müssen lange warten bis sich endlich eine Lücke auftut und sie sich in den fließenden Verkehr einreihen können. An zügiges Vorankommen ist nicht zu denken. Immer wieder verlangsamen ungesichert auf der Fahrbahn liegen gebliebene Pannenfahrzeuge, Ziegenherden und überladene Eselskarren die Fahrt. Während sich Herr Kadir auf die Straße konzentriert und Coleman ab und zu ein Foto durch das geschlossene Fenster schießt, unterhalten sich die Männer im Fond über das weitere Programm des Tages. Die Schwester des Präsidenten hat im Hotel Ghion zu einem Wohltätigkeitsdinner eingeladen.
»Wer soll denn diesmal in den Genuss der Wohltaten kommen?«, erkundigt sich James Cole.
»Die Witwen und Waisen der gefallenen Helden des letzten Eritrea-Feldzuges. Soweit ich weiß, sollen vom Erlös der Veranstaltung Schuluniformen für die Kinder angeschafft werden. Eine rundum positive Sache, wie man zugeben muss«, erklärt Abdul Bakar stolz.
»Sofern nicht bloß die Kinder der Offiziere bedacht werden, gebe ich ihnen recht«, entgegnet der Brite.
»Wie soll ich das verstehen?«
»Sie müssen doch zugeben, dass derartige Hilfsaktionen zuweilen ihr Ziel nicht erreichen.«
»Da muss ich Ihnen entschieden widersprechen«, springt der Banker seinem Freund bei. »Wir sind hier nicht in Somalia! Unsere Regierung achtet streng darauf, dass Gelder, insbesondere wenn sie aus dem Ausland kommen, zweckbestimmt verwendet werden. Meine Bank spielt dabei eine wichtige Rolle. Ich kann Ihnen versichern, dass alles mit rechten Dingen zugeht, insbesondere seit Mengistu aus dem Amt entfernt wurde.«
Wenngleich James Cole es besser weiß, rührt er in dem heiklen Thema nicht weiter herum. Überdies wird die Unterhaltung von einem überholenden Touristenbus gestört, der sich knatternd und mit schwarzer Rußfahne an dem Regierungsfahrzeug vorbei schiebt.
»Rift-Valley-Tours«, kommentiert Coleman den Schriftzug lapidar. »Spezialist für Abenteuerreisen.«
Haarsträubende Überholmanöver bei Gegenverkehr machen jede Busreise in Äthiopien zu einem Nervenkitzel. Unterdessen versucht Dr. Kaftassa, auf seinem Mobiltelefon eine Verbindung zu seiner Frau herzustellen. Offenbar sind die Akkus leer.
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, im nächsten Ort kurz anzuhalten? Ich muss dringend telefonieren«, wendet er sich an den Chauffeur. Und an die Reisegefährten gewandt: »Ich hoffe, ein kurzer Stopp bringt Sie nicht in Verlegenheit?«
»Keineswegs, Joseph«, erwidert Abdul Bakar, nachdem auch die übrigen Insassen keinen Einwand äußern. »Wir kommen gleich nach Hara Bako, wo wir erst kürzlich eine von der Universität Addis Abeba betreute Versuchsfarm aufgebaut haben. Soja und Weizen. Wir könnten dort anhalten und einen Kaffee trinken, während du dein Telefonat führst.«
»Einverstanden.«
Kurz darauf erreicht der weiße Dienstwagen des Staatssekretärs den Weiler Hara Bako.
Hara Bako lebt von der großen Straße, die schnurgerade durch das Dorf hindurchführt. Die Fahrbahn ist von einem breiten Schotterstreifen gesäumt, der direkt bis an die flachen Gebäude heranreicht. Auf beiden Seiten der Straße Marktbuden, Restaurants, Bars und kleine Hotels. In der Ortsmitte, gleich hinter der Tankstelle, zweigt eine Geröllstraße ab. Überall wo Platz ist, bieten Händler und Bauern aus der Gegend ihre Waren an. Die Läden und Marktbuden sind zur Straße hin offen.
Stoffe und Textilien liegen auf niedrigen Holzgestellen ausgebreitet; Ledertaschen, Gürtel und Nilpferdpeitschen hängen an Haken von der Decke herab; Tonkrüge und irdene Schüsseln stehen neben- und ineinander draußen im Staub; an den Wänden hängen Kaffeemühlen, die traditionell von Hand betrieben werden; über von der Last gebogenen Holzstangen: Felle von Ziegen, Antilopen und Zebras, Häute von Schlangen und Krokodilen. In großen Kisten werden die Früchte des Landes angeboten: Melonen, Ananas, Apfelsinen, Mangos und Papaya. Einige der Händler verkaufen frische Säfte, die an Ort und Stelle aus handgekurbelten Pressen herausfließen. Abseits der Straße parken Busse und offene Lastwagen, dazwischen stehen anthrazitfarbene Ochsen mit weit abstehenden Hörnern. Unter den Fahrzeugen suchen Hunde und Ziegen nach Fressbarem und Schatten. Und überall Menschen: Kinder haben Schnüre über die Straße gespannt, mit bunten Stofffetzen daran, die sie erst kurz vor den herannahenden Autos auf die Fahrbahn sinken lassen; Händler übertönen den Verkehrslärm mit ihren Angeboten; aus einigen Läden schallt Reggae. Dazwischen die Reisenden: Frauen in bunten Gewändern prüfen die Angebote; ölverschmierte Fernfahrer kauern unter bedrohlich geneigten Ladeflächen und mühen sich beim Radwechsel; Männer in Kaftanen dösen vor den Bars, schlürfen Kaffee und rauchen Zigaretten, Marke Gisella.
Haile Kadir findet einen halb im Schatten eines Feigenbaumes gelegenen Parkplatz gleich neben dem Restaurant Mogadishu. Ein Frisör, der dort seinen aus Hocker, Kamm und Schere bestehenden mobilen Salon eingerichtet hat, verschwindet hastig samt Kunde und Zubehör, als er den Regierungswagen langsam auf sich zusteuern sieht. Die Tatsache, dass sein Wagen den Zufahrtsweg zu mehreren Dutzend Hütten blockiert, die sich hinter den Bars bis hinunter zum Bewässerungskanal ausdehnen, ficht weder den Fahrer noch seine Passagiere an. In ihren Kreisen hat man eines verinnerlicht: je höher der soziale Status, umso weniger gelten die sozialen Spielregeln. Die Herrschaften aus der Hauptstadt steigen aus und lassen den Chauffeur beim Auto zurück.
»Wir sind da vorne im Hotel Awasch. Spätestens in einer halben Stunde geht es weiter«, erklärt Abdul Bakar seinem Fahrer.
Die Schritte durch einen heranbrausenden Holzkohlelaster beschleunigt, überqueren die Männer die Fahrbahn. Von hundert wachen Augen beobachtet betreten sie das Restaurant des Hotels, eines der wenigen mehrstöckigen Gebäude im Ort.
Haile Kadir lässt sich aus der Mogadishu-Bar Kaffee und einen Hocker bringen. Im Schatten des Baumes nippt er an seinem Glas. Mit dem Rücken an die Wand eines muslimischen Restaurants gelehnt, beobachtet er, wie drei junge Frauen aus der Bar treten und die schmale Seitenstraße hinunterlaufen, die jetzt von seinem Wagen zur Hälfte blockiert wird. Nicht allzu weit entfernt verschwinden die Mädchen in einem der Lehmhäuser. Die im Vorbeilaufen provozierend geworfenen Blicke und das auffällig getragene Make-up der Schönen lassen beim Kapitän der 2. Kolonne der Fahrbereitschaft des Wirtschaftsministeriums keinen Zweifel zu, dass es sich hier um Damen handelt, die mit erotischer Kurzweil den Durchreisenden die Langeweile vertreiben. Mit der Beschaulichkeit ist es darum flugs vorbei. Haile Kadir beschleunigt den Rhythmus, mit dem er Schluck für Schluck das anregende Getränk genießt. Auch entgeht ihm nicht, wie die Mädchen alle Augenblicke die Köpfe aus der Hütte strecken und kichernd zu ihm herüberblicken, wo er im Staub der Straße die Hitze spürt. Haile Kadir wirft einen Blick auf seine Uhr und wehrt den ungerufenen Gedanken an seine Gattin Mulunesch ab. Er stellt das Glas auf die Kühlerhaube, erhebt sich, zieht den Schlüsselbund aus der Tasche und geht zur Wagentür. Unschlüssig, so scheint es, blickt er die teils staubige, teils mit Wasserpfützen bedeckte Straße hinunter. Eines der Mädchen steht jetzt draußen. Haile wirft die Autotür ins Schloss, schließt ab und wartet auf das Funktionssignal der Alarmanlage. Dann folgt er dem Ruf der Wildnis.
Sein Abstecher hat nur eine Viertelstunde gedauert. Der Preis, den die hübsche Ababa verlangt hat, ist angesichts seiner bescheidenen Ansprüche und der Kürze des Arbeitseinsatzes nicht unverschämt.
Als Haile wieder auf die Gasse tritt, stellt er zufrieden fest, dass sein Chef und die Fahrgäste noch nicht wieder zurück sind. Doch schon nach wenigen Metern wird seine entspannte Seele von Panik befallen: Der feine Dienstwagen steht zwar nach wie vor im Schatten des Feigenbaumes, allerdings fehlen ihm jetzt die Räder. Gerade sieht er noch, wie ein Bursche mit dem Außenspiegel um die Ecke der Bar verschwindet. Als er schließlich schwitzend den Tatort erreicht, hört er auch schon die Stimme des Staatssekretärs, der zusammen mit James Cole einen stattlichen Elefantenstoßzahn über die Straße schleppt.
»Haile, bitte helfen Sie Herrn Cole dieses Souvenir im Wagen zu verstauen.«
»Selbstverständlich«, erwidert der Fahrer beflissen.
Seine Stimme klingt wie das letzte Gurgeln eines Ertrinkenden.

 

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